In Österreich wurde die staatliche Erlaubnis zur Zulassung von Frauen zum Studium der Philosophie im Jahre 1897 erteilt, diejenige zum Studium der Medizin im Jahre 1900.

Dr. OKTAVIA AIGNER- ROLLETT


Die erste gebürtige Grazerin, die an der Universität einen Doktorgrad erwarb, war Oktavia Rollett, welche am 9. Dezember 1905 zum Doktor der gesamten Heilkunde promoviert wurde.

Am 23. Mai 1877 geboren, war sie das älteste von sechs Kindern des Physiologen und mehrmaligen Rektors der Universität Graz, Alexander Rollett, der, was hier bemerkenswert ist, dem Pionierstreben seiner Tochter für das Frauen-Medizinstudium anfänglich einen gewissen Widerstand entgegengesetzt hatte und noch während ihres Studiums verstarb.

Weil vor der Jahrhundertwende den Mädchen sogar der Besuch von Gymnasien noch versagt war, besuchte Oktavia Rollett das sechsklassige Grazer Mädchchen- Lyzeum, ein Jahr die Lehrerinnenbildungsanstalt, legte die Lehrbefähigungsprüfung für Englisch ab und war Probekandidatin an der Mädchen- Bürgerschule in der Muchargasse. Nach der Zulassung von Mädchen zur Gymnasialmatura bereitete sie sich privat auf diese vor und maturierte 1900, also erst im Alter von 23 Jahren, als Externistin und erste gebürtige Grazerin am Akademischen Gymnasium (damals 1. Staatsgymnasium) am Tummelplatz.

Dafür erhielt sie ein Reifezeugnis, in dem die vorgedruckte Erlaubnisklausel zum Universitätsbesuch gemäß einer damals für weibliche Maturanten noch geltenden Ministerialverordnung durchgestrichen war. Das nach endlichem Fortfall auch dieses Hemmnisses für Frauen schließlich möglich gewordene Medizinstudium absolvierte sie ebenfalls in Graz, wo sie auch schon am obgenannten Tag promoviert wurde.

Am 27. Dezember 1905 vollzog Dr. Rollett als erste Frau in Graz eine Anmeldung zur ärztlichen Praxis, Anfang 1906 diejenige als erstes weibliches Mitglied der Steiermärkischen Ärztekammer. 1906 war sie als erste Doktorin am allgemeinen Krankenhaus in Graz beim Paulustor, und zwar in der II. Medizinischen Abteilung, tätig. Dort wirkte sie jedoch nur als unbezahlte Hilfsärztin, denn ihren von den Primarärzten befürworteten Bemühungen um eine Sekundararztstelle an diesem Landeskrankenhaus war vom Steiermärkischen Landesausschuss (Landesregierung) ein eigens gefasster Beschluss entgegengestellt worden, mit dem von weiblichen Doktoren als Sekundarärzte abgelehnt wurde.

1906/07 arbeitete sie dann als Sekundarärztin an der chirurgischen Abteilung am Anna- Kinderspital in Graz, in welchem Privatstiftungsspital es keine solche Widerstände gab. Die Wiener Medizinische Presse bezeichnete Dr. Oktavia Rollett in dieser Stelle als ersten weiblichen Sekundararzt in Österreich. In Wien gab es solche erst später. 1906 veröffentlichte Dr. Rollett in den Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien eine Arbeit zur Kenntnis der intraperitonalen Cholerainfektion.

Ein zeitweise schon mit dem Medizinstudium parallel gelaufenes, dann anschließendes und weit gediehenes Philosophiestudium (Chemie) scheiterte sehr offensichtlich am Professorenwiderstand gegen eine für damals ganz unerhört gewesene Verdoppelung des Doktorgrades durch eine Frau.

Am 26. September 1907 eröffnete Frau Dr. Rollett in Graz, Humboldtstraße Nr. 17, eine selbständige Praxis, womit sie die erste praktische Ärztin nicht nur in Graz und der Steiermark, sondern auch in einem Großteil des alten Österreich außerhalb von Wien wurde.

In Graz blieb sie in dieser Pionierstellung über ein Jahrzehnt allein.

Seit 1908 mit dem Assistenten am Anatomischen Institut der Universität Graz, Dr. med. Walter Aigner, verheiratet, wirkte Frau Dr. Oktavia Aigner- Rollett außer mit ihrer eigenen, alleinigen und bald ausgedehnten Praxis auch als erste Schulärztin an der k. k. Lehrerinnenbildungsanstalt, deren Übungsschule und Kindergarten, als Medizinal- Fachlehrerin an der Frauengwerbeschule sowie als Anstaltsärztin einer privaten Turnanstalt in Graz.

Ab 1925 war sie auch Vertragsärztin der damaligen Krankenkassen, 1935 erhielt sie den Titel Medizinalrat verliehen. In beiden Weltkriegen hatte sie viele eingerückte männliche Kollegen zu vertreten, und eine große Anzahl unbemittelter Patienten hatte sie vollkommen unentgeltlich behandelt.

Dr. Oktavia Aigner- Rollett, Mutter dreier Söhne, war in Frauenvereinen tätig und engagierte sich für Frauenrechtsbelange.

Ende 1952, im 76. Lebensjahr stehend und seit längerem schon leidend, stellte Frau Dr. Aigner- Rollett nach über 45jähriger ununterbrochener Berufstätigkeit in Graz ihr Wirken als Ärztin ein. 1955 empfing sie als erste Frau in Graz das goldene Doktordiplom, am 22. Mai 1959 verstarb sie im Hause ihres so langen Wirkens im Alter von genau 82 Jahren. Sie liegt auf dem Grazer Zentralfriedhof begraben.


(Text: Reinhold Aigner, aus ZEITSCHRIFT DES HISTORISCHEN VEREINES FÜR STEIERMARK, Herausgegeben vom Vereinsausschuss geleitet von FERDINAND TREMEL und PAUL W. ROTH, Graz 1979)